Tierethik und Tierrechte

Der emotionale Spagat
von Otto Hopfensperger

Viele Menschen lieben Tiere. Sie gehen in den Zirkus oder sehen sich Tiere im Zoo an. Das Kind bekommt ein Haustier, damit es lernt, fürsorglich damit umzugehen und Verantwortung zu übernehmen. Den Urlaub verbringt man gerne auf einem idyllischen Bauernhof, auch wieder der Kinder wegen. Der Hundebesitzer verwöhnt und verhätschelt seinen Vierbeiner. Er nennt ihn seinen besten Freund und sagt, dass er für ihn alles geben würde. Und trotzdem kann es vorkommen, dass derselbe Hundebesitzer im nächsten Moment von einem köstlichen Lammbraten schwärmt, den er heute zu Mittag gegessen habe. Aus artgerechter Haltung natürlich, möglichst bio, man will ja schon, dass es dem Tier vorher gut gegangen ist. Auch wenn das Tierbaby erst wenige Tage auf der Welt war. Aber schon wird sein Leben gewaltsam beendet. Das Lamm landet im Kochtopf. Artgerecht?

Insgesamt ist der Umgang unserer Gesellschaft mit Tieren sehr von Gewalt geprägt. Wir lassen zu, dass Kühe in Massentierhaltungen zu reinen Milchproduktionsmaschinen verkommen. Männliche Küken werden bei lebendigem Leib geschreddert, obwohl wir sie in der Werbung andererseits so putzig finden. Bei Tierversuchen werden die von uns so geliebten Hunde und Katzen mit allen möglichen Krankheiten infiziert. Zum Wohle der Menschheit müssen sie stellvertretend für uns an Krebs erkranken und stellvertretend für uns auch „unsere“ qualvollen Schmerzen ertragen. Zum Fortschritt der Medizin. Damit die Heilungschancen für uns Menschen steigen. Wir isolieren Primaten und berauben sie ihrer Eltern, um psychologische Erkenntisse über den Menschen zu bekommen und Medikamente gegen Depressionen zu entwickeln. Wir zerstören systematisch die Lebensräume vieler bedrohter Tierarten und rotten sie damit aus. Neue, oft sinnlose, überflüssige Produkte, die nur ihrem Hersteller und seinen wirtschaftlichen Interessen nützen, müssen, bevor sie auf den Markt kommen, zuerst an Tieren ausgetestet werden. Wieder sind es die Tiere, die leiden müssen, damit wir Menschen nicht eventuell Probleme bekommen. Damit wir den Schaden nicht selbst ausbaden müssen. Die Beispiele ließen sich endlos fortsetzen.
Wir Menschen nutzten und benutzten das Tier, wo immer wir uns davon einen Vorteil versprechen. Es ist ja „nur“ ein Tier, heißt es dann. Und der Unterschied zwischen Tieren – womit wir alles meinen, was nicht Mensch und nicht Pflanze ist: also Amöben, Würmer, Hunde, Elefanten, Schimpansen usw. – und Menschen ist anscheinend, so meinen viele, unendlich groß. Zumindest groß genug, dass uns unser Verhalten als richtig und gerechtfertigt erscheint. Wir werten unsere menschlichen Interessen als so schwerwiegend, und sei es auch nur der kurze Gaumenkitzel einer besonders exotischen Fleischart, dass dagegen die Interessen des Tieres, das dafür leidet und mit seinem Tod bezahlt, einfach nur verblassen.

Aber: Worin besteht denn eigentlich der Unterschied zwischen Menschen und anderen Tieren?

Bereits der griechische Philosoph Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) stellte die Geschichte des Lebens als eine stufenweise Höherentwicklung alles Lebendigen dar und den Menschen als Höhepunkt, als Ziel- und Endpunkt dieser Entwicklung. Das Christentum übernahm diese Vorstellung. Nun war der Mensch die „Krone der Schöpfung“. Die Kirche wollte den Menschen ganz nahe an Gott heranrücken. Mit der Aussage, dass der Mensch und nur der Mensch von Gott „nach seinem Ebenbild“ geschaffen wurde, machte das Christentum den Menschen zum absoluten Herrscher über die Welt. Sein „göttlicher“ Auftrag an ihn: „Sich die Erde untertan machen“, wörtlich sogar „den Fuß daraufsetzen“. So wie ein Imperator sich fremdes Land unterwirft.
Von Anfang an tat die Kirche alles, um eine möglichst unüberwindliche Mauer zwischen Mensch und Tier hochzuziehen. Absoluter Tiefpunkt in dieser Entwicklung war der Philosoph und Kirchenmann Rene Descartes (1596 – 1650). Mit seiner definitiven Unterscheidung zwischen „res extensa“ („Materie“) und „res cogitans“ („Geist, Seele“) – wobei er nur dem Menschen Geist und Seele zusprach, den Tieren aber nicht – lieferte Descartes den Menschen die Lizenz für die damals massenhaft durchgeführte Vivisektion: das Operieren von Tieren bei lebendigem Leib und ohne Betäubung. Fühlen, empfinden, leiden – dazu braucht ein Lebewesen eine Seele, denn nur in der Seele sind die Gefühlsregungen beheimatet.

Mit Descartes Definition von Seele wurde den Tieren die Möglichkeit, Schmerz zu empfinden, einfach abgesprochen, wegdefiniert. Der Graben zwischen Mensch und Tier wurde auf diese Weise fast unüberwindlich. Wie praktisch für den Menschen. Nun konnte er mit den Tieren buchstäblich alles anstellen. Und man brauchte bei der Vivisektion, die der Philosoph eigenhändig durchführte, kein schlechtes Gewissen mehr zu haben. Wenn nun jemand auf die erbärmlichen Schmerzensschreie verwies, die das Tier bei der Vivisektion ausstieß und die so sehr der panischen Verzweiflung eines Menschen in einer vergleichbaren Situation ähnelte, dann beschwichtigte der Philosoph den Zweifler: das Tier könne eben per definitionem keine Schmerzen haben. Vielmehr verglich er das Schreien des Tieres mit dem beiläufigen Quietschen einer schlecht geölten Uhr.

Von diesem absoluten Tiefpunkt in der wissenschaftlichen Unterscheidung von Mensch und Tier an bis herauf in unsere Zeit ist der Alleinstellungsanspruch des Menschen gegenüber dem Tier auf dem Rückzug. Die einmal so unüberwindliche Mauer zwischen Tier und Mensch bekommt Risse. Ja sie bröckelt mehr und mehr.

Zunächst führte man die herausragende Intelligenz als Unterscheidungskriterium an. Doch umso mehr man Primaten, Delfine und hochentwickelte Vögel untersuchte, desto wackeliger wurde diese Position. In Japan gibt es einen Bonobo mit einem „Supergehirn“. Er löst mathematische Aufgaben, wozu kein einiger Mensch bisher in der Lage war. Und in einer Geschwindigkeit, die es sehr unwahrscheinlich erscheinen lassen, dass jemals ein Mensch dazu in der Lage sein wird. Dann war es die Sprache, die den Menschen vor allen Tieren auszeichnete. Bis man wiederum Schimpansen und Bonobos die amerikanische Taubstummensprache beibrachte. Seitdem weiß man: Primaten können sprechen, Sätze bilden, verfügen über ein einfaches grammatikalisches Verständnis. Und: was man bis dahin auch nicht für möglich gehalten hätte: sie können sogar schummeln und lügen. Aber ich denke, das wissen alle, die einen intelligenten Hund haben. Dann war der Werkzeuggebrauch das definitive Unterscheidungsmerkmal. Außerdem wurde der Mensch als das einzige Wesen angesehen, das sich eine Kultur schaffen kann. Doch weit gefehlt: Viele Vögel verwenden Werzeuge und Primaten geben ihre neu erworbenen Erfahrungen an ihre Stammesgenossen und an ihre Kinder weiter. Unterschiedliche Stämme unterscheiden sich häufig in ihrem Verhalten und in ihren Gewohnheiten. Sie sind somit fähig, sich eine rudimente Kultuer zu schaffen. Dann blieben noch übrig die Religion und die Moral. Tiere hätten, wie man meinte, keine Vorstellung vom Tod und hätten keine Moral. Die Primatenforscherin Jane Goodall kommt in ihren Forschungen auf ganz andere Ergebnisse. Primaten wissen vom Sterben, sie leisten Trauerarbeit. Bei Elefanten findet man Rituale, wenn ein Mitglied ihrer Herde verstorben ist, die man auf rudimentäre Weise durchaus mit menschlichen Verabschiedungsfeiern vergleichen könnte. Blieb am Ende nur noch die Moral: Der Mensch sei das einzige Wesen, das moralisch handeln kann. Doch auch diese letzte menschliche Bastion scheint zu fallen.

Ohne in allzu anthropomorphe Denkkategorien zu verfallen: ist es ausgeschlossen, dass es zum Beispiel in der Welt der Wölfe so etwas wie „gute“ und „schlechte“ Individuen gibt? Tiere, die sich so verhalten, wie man sich eben verhält als Wolf, wie es üblich ist, wie es die Wolfssitten verlangen, wie es sich gehört? Nichts anderes meinen wir Menschen, wenn wir sagen, dass ein Mitglied unserer Spezies sich „moralisch“ verhält. Unser Wort „Moral“ kommt schließlich vom Lateinischen „mores“: Sitten, Gebräuche.

Der christliche Charakter unserer Gesellschaft schwindet immer mehr, aber, dass der Mensch als Krone der Schöpfung mit den Tieren alles machen darf, hält sich hartnäckig auch ohne religiöse Unterfütterung. Nun, der Mensch sollte sie nicht unnötig quälen, wenn es keinen triftigen Grund gibt. Aber den finden wir schon, wenn es um den Nutzen für uns Menschen geht. Von der Zoologie wird immer mehr zugegeben, dass sich diese Grenze zwischen Mensch und anderen Tieren so nicht halten lässt. Es gibt sie einfach nicht. Mit unseren nächsten Verwandten im Reich der Primaten haben wir über 98 % gemeinsame Gene. Doch unsere Gesellschaft macht munter weiter in ihrem teilweise sehr gewalttätigen Verhalten, als wenn nichts geschehen wäre. Die einzige „Rechtfertigung“, die wir dafür vorbringen können, heißt „Macht“. Wir können das alles mit den Tieren anstellen, weil wir Menschen die Macht dazu haben und weil sich die Tiere dagegen nicht wehren können.
Und innerhalb der Tiere unterscheiden wir dann nochmals in solche, die wir in unser Leben und in unser Wohnzimmer (sogenannte Heimtiere) lassen und solche, die wir lieber aus unserem Leben verbannen (sogenannte Nutztiere). Tierfabriken mit Massentierhaltung, Versuchslabore, Schlachthöfe sind häufig den Blicken der Menschen entzogen. Wenn das Tier dann in unserer Wohnung landet, ist es meistens nicht mehr als solches erkennbar. Es wurde zum Schnitzel, zum Fischstäbchen, zum Hackfleisch.

Konkret: der niedliche Eisbär Knut wurde zum Star, dessen Schicksal eine ganze Nation bewegte, das arme Spanferkel, das sich am Grill dreht, hoffte vergeblich auf Gnade, obwohl das Schweinchen dem kleinen Eisbären an Niedlichkeit sicher nicht nachsteht. Aber viele Menschen bekommen das hin. Mit einem emotionalen Spagat.